Nur einen Steinwurf von Triest entfernt liegen das Schloss Duino und der Rilkeweg hoch oben auf den Klippen. Aus der Hafenstadt Triest kommend fährt man am imposanten Duiner Kliff vorbei, das die schwindelfreien Kletterer für ihr gefährliches Hobby erwählt haben. Der Blick streift über das endlose blaue Meer, auf dem winzig erscheinende Boote im Wind das glitzernde Sonnenfunkeln auf der Wasseroberfläche zerschneiden.
Nach 14 Kilometern erreicht man über die Küstenstraße die kleine Stadt Duino, die heute ein Ort mit weniger als 2000 Einwohnern an der Adriaküste Italiens ist. Eine ältere Burg liegt in Trümmern, während das neuere Schloss aus dem 14. Jahrhundert von Touristen besichtigt werden kann.
Neben dieser Sehenswürdigkeit auf den Klippen kommen die meisten Touristen vor allem, um auf der Steilküste von Duino nach Sistiana in 144 m Höhe auf den Spuren Rainer Maria Rilkes zu spazieren.
Auf den Spuren des deutschsprachigen Dichters
Das sich heute noch im Besitz der Familie Thurn und Taxis befindliche Schloss war zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Ort eines literarischen Salons, dem auch Rainer Maria Rilke (1875–1926) angehörte. Als Gast der Gräfin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe verbrachte der bedeutende Dichter der literarischen Moderne hier eine kreative Schaffenszeit vom 22. Oktober 1911 bis zum 9. Mai 1912.
Durch eine Anzahl von Briefen ist belegt, welch hohe Bedeutung Rilke dem Finden eines geeigneten Rückzugsortes für die Niederschrift seines Werkes zumaß. Das Schloss Duino bot Rilke nicht nur Stille und Zurückgezogenheit, sondern auch als Kombination von Fels und Meer eine inspirierende Landschaft.
Fänden auch wir ein reines, verhaltenes, schmales/Menschliches, einen unseren Streifen Fruchtlands/zwischen Strom und Gestein. (2. Elegie)
Rilkes ausgedehnte Spaziergänge entlang der Steilküste nach Sistiana sind legendär und der Rilkeweg trug infolgedessen bereits früh seinen Namen.
Rilkes Gedichtzyklus „Duineser Elegien“
In dem halben Jahr seines Aufenthalts schrieb Rilke die erste Elegie seines Werkes hier an diesem idyllischen Ort und erst 1922 vollendete er die zehn wortgewaltigen Duineser Elegien. Rilkes ästhetischer Anspruch war die Verbindung der traditionellen Formen der Hymne und der Elegie.
Was mag Rilke vor mehr als 100 Jahren gedacht und gefühlt haben, als er über die Klippen wanderte?
Wenn der Blick in die Ferne schweift und sich in der Unendlichkeit des Meeres verliert, hat er vielleicht die Engel über dem Horizont schweben sehen, denn der Engel ist das Leitmotiv seiner Elegien.
Schroffe Felsabhänge stürzen ins Meer und möglicherweise stürzte auch Rilke – in den Kampf um die treffenden Worte, um den tiefen Ausdruck seiner Emotionen und um die sprachliche Durchdringung der Welt.
Frühe Geglückte, ihr Verwöhnten der Schöpfung/Höhenzüge, morgenrötliche Grate/aller Erschaffung … (2. Elegie)
Sicher gibt es überall auf der Welt unzählige vergleichbare Aussichten, ähnliche Spazierwege mit derselben Vegetation, aber Rilke muss hier etwas gefunden haben, das ihn zutiefst inspiriert hat.
Der Rilkeweg von Duino nach Sistiana
1987 wurde dieser Weg im Auftrag der Provinz Triest und der Gemeinde Duino-Aurisina befestigt, gesichert und ausgebaut. Er wurde über eine Länge von knapp zwei Kilometern mit Kies bedeckt und im Jahr 2000 wurde die Verbindung des Weges zwischen Duino und Sistiana fertiggestellt.
An manchen Stellen gibt es sichere Aussichtspunkte, aber man kann auch auf eigene Gefahr auf den Rand der Felsen klettern und in der Sonne sitzen, um den phänomenalen Ausblick zu genießen oder seine Gedanken in die Ferne zu schicken oder wie Rilke zum Stift zu greifen.
Immer ist es Welt/und niemals Nirgends ohne Nicht: das Reine,/Unüberwachte, das man atmet und/unendlich weiß und nicht begehrt./Der Schöpfung immer zugewendet, sehn/wir nur auf ihr die Spiegelung… (8. Elegie)
Rilkes Worte schweben zwischen Himmel und Erde und zwischen Wolken und Meer – leichte Kost sind sie nicht!